Die dritte Dimension
Du schielst. Kind, du schielst. Und wie du schielst. Schau gerade. Verdammt noch mal. Schau. Gerade.
Wer das hört, schielt.
Ja, Mama. Ich schiele. Nach wie vor. Ungebrochen. Seit meinem dritten Lebensjahr. Seitdem habe ich nicht mehr aufgehört, zu tun, was Gott mir in die Gene implantiert hat. Strabismus.
Man liest ja so einiges. Etwa, dass Strabismus von traumatischen Kindheitserlebnissen kommt. Wer zuviel sieht, sieht lieber zweidimensional statt dreidimensional. Wer zuviel sieht, lässt ein Auge ins Nichts kippen.
Gut, meine Eltern haben gesoffen.
Und meine Mutter ist manchmal, da war ich drei, nachts nicht nach Hause gekommen. Okey, ich habe deshalb meinen Polster nass geweint.
Aber deshalb schielen?
Gott muss ja nicht gleich zweimal strafen.
Immer, wenn ich die Großen angeschaut habe, dann fühlte sich keiner betroffen. Vermutlich, weil ich an jedem vorbeigesehen habe. Der Arzt fragte zweimal pro Woche, in der Sehschule nämlich, ob der Hund endlich in der Hütte sei (in der Sehschule bekommt man zwei Bilder präsentiert. Einen Hund. Eine Hütte. Wer nicht schielt. sieht Hund und Hütte vereint. Wer schielt, kriegt gar nix mehr auf die Reihe. Oja!)
Meine Mutter verzweifelte. Dann wurde ich operiert. Erst einmal. Dann zweimal. Dann ein drittes Mal. Beim dritten Mal heulte ich den Schwestern die Bude voll. Wer Wunden an den Augen trägt, sollte allerdings nicht weinen. Knapp verfehlte ich das Blind-Sein. Das Licht meiner Puppenküche blendete.
Die Welt blendete mich. Und trotzdem blieb sie jener Ort, der sich nur durch den Rückzug ins Zweidimensionale erträglich fühlen ließ.
Heute noch beherrsche ich das Daneben-Schauen perfekt.
yomogi - 21. Apr, 21:00